Die Kunst des Entwischens
Die Kunst des Entwischens – Das Fließende, Fragmentarische und die Verbindung mit Welt
In einer Welt, die oft nach Klarheit und Präzision strebt, finde ich mich selbst in genau dem Gegenteil wieder. Mein kreativer Prozess dreht sich um das Entwischen – einen Raum, in dem nichts statisch, nichts fest ist, nichts wie es eigentlich gedacht war. Es geht um das Fließende, das Fragmentarische, das Unbeständige und immer auch das Verbindende. Diese Konzepte sind nicht nur abstrakte Ideen; sie sind eine Art zu existieren, eine Methode, ständig Fragen zu stellen und das Leben zu verstehen. Echoes, weil wir wirken.
Das Gefühl von ständiger Bewegung und Veränderung ist meiner Arbeit immanent. Es ist fast wie eine Obsession, aber nicht im herkömmlichen Sinne. Es ist eher eine ständige Auseinandersetzung mit dem Leben selbst, ein Bedürfnis, in dieser Ungewissheit zu verweilen und daraus Bedeutung zu schöpfen.
Fotografie ist für mich ein Medium des „Entgleitens“ – ein Prozess des Loslassens von starren Formen und Definitionen. Sei es individuell als auch strukturell.
Wenn wir an „slippage“ denken (analog zu Katrin Koenning, „eine Handlung, ein Fall oder ein Prozess des Ausrutschens“), stellen wir uns vielleicht einen Fehler oder ein Versehen vor, aber es steckt etwas Schönes in diesem Kontrollverlust. In der Unvorhersehbarkeit liegt Kraft. Sie schafft Raum, in dem Beziehungen und Ideen entstehen können, in dem Neues aus der Unfixheit wachsen kann. Hier, in diesen Momenten, entsteht Kreativität.
Diese Idee der Unfixheit hat sich auch in meiner Serie „Random Echoes“ manifestiert. Es ist genau das, was ich versuche zu beschreiben: „Realität ist nur eine Geschichte. Fotografie ist mein Überleben.“ Alles, was ich tue, ist ein Versuch. Ich sehe Kunst nicht als neue Darstellung der Realität. Aber es kann der Versuch sein, ein neues Narrativ zu schreiben. Es ist mein Versuch, die Welt zu verstehen. Es ist mein Versuch, in dieser Welt zu sein. Nicht, um sie zu kategorisieren, wie es in der Tradition kapitalistischer Gesellschaften üblich ist, sondern im Prinzip der Aisthesis: einen Affekt zu erzeugen. Eine Verbindung zu schaffen. Zu fühlen, was da ist.
Meine Bilder schaffen für mich diese Verbindungen, und durch Fotografie schaffen wir auch Verbindungen zu anderen. Cihan Cakmak, eine Künstlerin, die wir kürzlich bei lewizual zu Gast hatten, beschreibt genau das auch in ihrer fotografischen Arbeit: „Seperate from them and somehow connected.“ Als Mensch mit Traumaerfahrung schafft sie durch ihre Bilder eine Verbindung zu ihren Emotionen, zu ihrem Körper. Eine Verbindung zur Welt.
Eine Wieder-verbindung.
Besonders durch meine Selbstporträts schaffe ich in vielerlei Hinsicht eine (Wieder?)-Verbindung zu mir selbst und zur Welt. Im Akt des Fotografierens selbst, beim Betrachten des Bildes und auf einer strukturellen Ebene.
Mit meinen Selbstporträts habe ich die Chance, meine eigene Geschichte zu erzählen und sie gleichzeitig zu hinterfragen und, wenn möglich, sogar zu verstehen. Diese Bilder haben mir geholfen, meine Rolle als Mutter zu reflektieren, und mir ein Gefühl der Zugehörigkeit gegeben, als ich mich allein fühlte. Sie helfen mir, meine Identität zu verstehen, mich selbst zu hinterfragen und gleichzeitig meine Menschlichkeit zu begreifen. Dabei gibt es auch im Prozess selbst immer auch einen Moment des Engleitens, in dem ich das Gefühl habe Definitionen bzw. bestimmte Zuschreibungen loszulassen, diesen einen Schritt weitergehen, als ich es mir selbst zugetraut hätte.
In meinen Bildern – in ihrer Materialität! – geht es nicht um die bloße Darstellung, sondern um die Offenlegung: das, was mich bewegt, was mich berührt. Ich überschreite Grenzen – nicht nur die anderer, sondern auch meine eigenen. Die „Echos“, die ich in meiner Arbeit spüre, entstehen durch meine Wirkung, durch das, was ich in die Welt sende und was sie zurücksendet.
Ich frage mich oft, ob es möglich ist, mit Fotografie Räume zu schaffen, die unordentlich, chaotisch, offen und fließend sind. Räume, die Fragen aufwerfen und auf verschiedene Arten gelesen werden können, so wie das Leben selbst.
Ich persönlich glaube daran.
In diesen Räumen sind das Chaos und die Unordnung nicht nur erlaubt, sondern geradezu notwendig. Das Statische, das Festgelegte, das Polierte – das ist nicht mein Fokus. Stattdessen suche ich nach etwas Lebendigem, etwas, das atmet, etwas, das Fragen stellt.
Ich will keine Definitionen. Es kann keine Definition geben. Definitionen an sich töten die Lebenden.
Und letztendlich geht es bei dieser Unfixheit um das Finden von Schönheit in genau diesen zarten Räumen, in den Momenten, in denen Dinge entgleiten und sich verändern. Es geht darum, uns selbst zu erlauben, verletzlich zu sein, das Fragmentarische und Fließende des Lebens anzunehmen. Denn aus diesem Raum kann immer etwas Neues und Unerwartetes entstehen.
Dieser Prozess ist zutiefst gemeinschaftlich. Meine Arbeit ist nicht nur meine eigene, sie wird von den Gemeinschaften geformt, zu denen ich gehöre, von den Menschen, denen ich begegne, und den Erfahrungen, die wir teilen. Heilung und Wachstum finden in diesen geteilten Räumen statt. Fotografie wird so zu einer Erweiterung dieses gemeinsamen Tragens – eine Möglichkeit, diese Momente von Fragilität und Stärke festzuhalten und gleichzeitig aufmerksam zu betrachten.
Die Kunst des Entwischens bedeutet, die Welt nicht in Kategorien zu pressen, sondern Verbindungen zu schaffen, zu zuhören, sie zu spüren und zu hinterfragen. Sie ist ein Versuch, unsere Geschichten neu zu erzählen und dabei immer offen zu bleiben für das, was kommen mag.
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Dieser Text ist inspiriert durch den Memorycult Talk mit der Künstlerin Katrin Koenning.




